Ein scheinbar unmöglicher Fall von Jan-Åke HagerAls ich vier Jahre alt war, wurde ich als Pflegekind von Lübeck nach Åmotfors in der Gemeinde Eda in Värmland/Schweden geschickt. Zwei Jahre später wurde ich von meinen Pflegeeltern adoptiert. Das war eine sehr grosse Begebenheit im Leben eines kleinen Jungen, die Eltern, das Land, die Sprache, das Umfeld von Grosstadt in ein Dorf in endlosen Wäldern zu wechseln. Aber es war wohl ein guter Wechsel, denn in den Dokumenten meiner Adoption ist zu lesen, dass mein neuer Vater strebsam sei und meine neue Mutter gesund, fröhlich und harmonisch. Die Vorsitzende des Jugendamtes der Gemeinde bekam einen sehr guten Eindruck von den Pflegeeltern. In Lübeck sollen die Verhältnisse in der Familie jedoch unglücklich gewesen sein. Aber von alledem wusste ich nichts und konnte auch nichts davon verstehen. Ich konnte ja noch nicht lesen. Viele Jahre später erfuhr ich jedoch, dass es eine „richtige“, leibliche Mutter gab, die in Lübeck lebte, und einen „richtigen“, leiblichen Vater, der nicht in Lübeck, sondern auf der Insel Tjörn nördlich von Göteborg wohnte. Die Leute auf Tjörn nahmen mich in der Familie wie einen der Ihrigen auf. Nicht so gut war es mit meiner leiblichen Mutter, obwohl sie bisweilen Tjörn besuchte. Später verloren wir dann jeglichen Kontakt. Weitere Jahre später wurde ich dann von der Ahnenforschung „befallen“, was unter Adoptivkindern oft vorkommt. Man sucht nach seinen Wurzeln. Nach meinen schwedischen Vorfahren zu suchen, war recht einfach. Es gab ältere Verwandte, die ich fragen konnte, und die Kirchenbücher waren dank der weitgehenden Digitalisierung durch ArkivDigital, Genline und SVAR sowie dank der vom schwedischen, genealogischen Dachverband herausgegebenen CD-Platten über die Volkzählungen zwischen 1880 und 1990 sowie dem so genannten Totenbuch Schwedens (Sveriges dödbok) leicht zugänglich. Aber wie forscht man in Deutschland? Der Hindernisse gab es viele. Nicht zuletzt die Sprache, aber auch die Tatsache, dass so wenig in Deutschland digitalisiert zu sein schien. Ich kannte niemanden in Lübeck und hatte keinen Kontakt zu irgendwelchen deutschen Verwandten. Es schien somit, ein unmöglicher Fall zu sein… Bei einer Facebookgruppe bekam ich den Rat: „Versuche es doch mit dem Verein G-gruppen. Die scheinen sich mit solchen Fällen zu befassen.“ Anfang 2016 wurde ich also Mitglied der G-gruppen und am 5.2.2016 schrieb ich auf der Liste des Vereins und erzählte von meiner Suche. Unter anderem schrieb ich, dass meine Mama und meine Halbschwester zwar im Leben sein sollen, dass ich jedoch keinen Kontakt mit ihnen habe und dass ich beide auch nicht einmischen wolle. Schon am nächsten Tag erhielt ich auf der Liste von drei wohlmeinenden Mitgliedern Antwort. Die Antworten waren jedoch recht allgemein gehalten. Aber es kam noch eine Antwort – jedoch nicht über die Liste – von einem der Moderatoren der Liste: Jürgen Weigle. Er schrieb mir, dass mein Fall sehr „empfindlich“ sein könnte. Die Fragen könnten vielleicht schmerzhaft für die Betroffenen sein. Sie könnten sogar gegen Gesetze verstossen, besonders das deutsche Personenstandsgesetz sei sehr streng. Dann schlug Jürgen vor, dass ich nach Dokumenten über meine Adoption beim Jugendamt in Åmotfors suchen solle. Bingo! Dort gab es ein Dokument über die Prüfung des Adoptionsantrages mit vielen Angaben über sowohl meine Adoptiveltern wie auch meine leiblichen Eltern in Lübeck. Es war wie ein „Sesam, öffne dich!“. Jürgen half mir, einen Brief auf Deutsch an das Standesamt in Lübeck mit der Bitte um Kopien der Geburtsurkunde und Heiratsurkunde meiner leiblichen Mutter zu schreiben. Ich schickte den Brief am 24.3.2016 ab. Die Behörde teilte mir mit, dass die Gebühr für zwei Kopien 20 EURO sei, die umgehend von mir bezahlt wurden. Ich erhielt die bestellten Dokumente am 29.4.2016. Ohne Frage rasch. Leider waren es jedoch nur Auszüge aus dem Geburtenregister und dem Heiratsregister. Wir glaubten, dass wir Kopien der Originale bestellt hatten. Da sahen Jürgen und ich ein, dass wir Hilfe vor Ort in Lübeck benötigten. Jemanden, der weiss, bei welchen Behörden man suchen muss, der die verschiedenen Archive besuchen kann und der die „Fachsprache“, also die Sprache der Bürokraten, beherrscht. Aus dem Auszug geht lediglich hervor, dass mein Grossvater ein gewisser Hans Burmester war, ohne Angaben zu seiner Person. Jürgen schlug deshalb vor, dass er einen Gerhard Huss, der Vorsitzender des Lübecker Vereins für Familienforschung und auch mit Jürgen über Vorfahren vom Anfang des 18. Jahrhunderts verwandt sei. Vielleicht wolle Gerhard uns helfen. Jürgen schrieb am 2.5.2016 an Gerhard, welcher innerhalb von 24 Stunden antwortete, dass er es tun würde. Nicht nur das. Er schickte auch eine PDF-Datei der Deutschen Kriegsgräberfürsorge e. V. mit Angaben über den Tod meines Grossvaters am 3.8.1944: geboren am 7.7.1913 in Lübeck gestorben am 3.8.1944 auf dem H.V.Pl. südlich Pleskau (Pskow) ruht auf der Kriegsgräberstätte in Narwa, Estland, Block 2, Reihe 31, Grab 729 Ein Puzzleteilchen. Nicht nur für meine Ahnenforschung. Hier gibt es ein Grab, das ich besuchen kann.
Mitte Juni 2016 schickte ich meine Bestellung „erweiterte Melderegisteraus-künfte“ bezüglich meiner leiblichen Mutter und deren Eltern sowie eine generelle Vollmacht an Gerhard, damit er mit der Suche nach meiner Mutter und nach Angaben zu meinen Grosseltern anfangen konnte. Meine Mutter fand er in Lübeck im Heiligen Geist Hospital aus dem 13. Jahrhundert. Gerhard besuchte meine Mutter. Gefragt, ob sie Kinder habe, sagte meine Mutter, dass es eine Tochter gäbe. Als Gerhard meinte, dass es doch auch einen Sohn gäbe, sagte meine Mutter: „Nein, der war krank, der ist gestorben“. So hätte man es ihr gesagt. Das tat weh. Wir konnten auf jeden Fall nicht damit rechnen, dass wir irgendwelche Informationen von meiner Mutter erhalten würden. Gerhard begann so seine Suche in den Archiven. Das erste Dokument, das ich bekam, war meine eigene Geburtsurkunde. Ich wurde am 8.1.1959 um 9.25 Uhr in unserer Wohnung in der Richard-Wagner-Strasse 30 in Lübeck geboren und erhielt den Namen Jan-Oke. Der gesetzliche Vater war der Steuermann auf grosser Fahrt Ernst Jürgen Bechtel. Die Eltern hatten am 18.3.1958 geheiratet. Auf der Urkunde ist eine handschriftliche Notiz vom 16.8.1967, dass ich am 24.2.1967 von Anton Reinhold Hager und Inger Viola Hager, geborene Andersson, in Åmotfors adoptiert wurde sowie, dass die Adoptiveltern am 15.11.1960 in Schweden getraut sind. Das nächste Dokument, welches ich erhielt, war die Geburtsurkunde meiner Mutter. Sie wurde am 11.12.1936 ausserehelich in der Wohnung ihrer Mutter in Lübeck geboren; die Mutter hiess Tomma Marie Annette Meinerts. Auf der Urkunde sind drei handschriftliche Notizen: teils dass Hans Burmester, geboren am 7.7.1913, am 4.2.1937 „das nebenbezeichnete Kind als von ihm erzeugt anerkannt“ hat; teils dass die Mutter am 3.6.1939 mit dem Hans Burmester die Ehe geschlossen hat und dass das Vormundschaftsgericht somit am 4.7.1939 beschlossen hat, dass das Kind „ehelich geworden“ sei; teils dass die Mutter des Kindes am 29.6.1918 in Kiel III geboren ist. Das waren wertvolle Informationen. Dann erhielt ich in schneller Folge weitere Dokumente von Gerhard:
Das „Kronjuwel“ ist jedoch ein Dokument, welches man als Familienakte beim Standesamt nennen kann und welches die Familie meiner Grossmutter und meines Grossvaters beginnend mit deren Trauung 1939, deren Geburtsdaten mit Aktenzeichen, dem Tod meines Grossvaters 1944, den Eltern beider mit Geburts- und Hochzeitsdaten (Urgrossmutter (väterlich) Karoline Katharina Meiborg wurde am 11.10.1880 in Lindow / Mecklenburg geboren; sie heiratete am 15.5.1900 in Selmsdorf / Mecklenburg; Urgrossmutter (mütterlich) war Deborah Elisabeth Meinerts, unverheiratet, geboren am 26.1.1895 in Thunum, Kreis Wittmund, Niedersachsen, Ostfriesland) sowie die Kinder meiner Grosseltern: meine Mutter Christel, geboren am 11.12.1936; Edmund, geboren am 7.7.1939 in Lübeck sowie Anke, geboren am 30.1.1943 in Lübeck, enthält. Die Urkunde ist amtlich beglaubigt. Im Laufe von vier Monaten verhalf mir Gerhard Huss zum Durchbruch: fünf Generationen Burmester von meiner leiblichen Mutter bis zu meinen Urururgrossvätern. In einem Fall, der zu Beginn schien „unmöglich“ zu sein. Vieles muss muss noch erforscht werden. Die Aufgaben müssen vor Ort in Deutschland (Lübeck, Kiel, Gross-Berkentin, Mecklenburg, Niedersachsen) gelöst werden. Die Digitalisierung durch Archion ist erst im Anfangsstadium. Noch gilt es, teils mit Hilfe von mit der G-gruppen befreundeten Vereinen in Deutschland zu suchen und teils Standesämter und Kirchspiele zu besuchen. Es ist jedoch nicht mehr ein unmöglicher Fall.
Jan-Åke Hager Übersetzung: Jürgen Weigle Copyright © Jan-Åke Hager |