Das Große Marienburger Werdervon Lars G JohanssonInhaltsverzeichnis:
1. EinleitungFür die meisten schwedischen, sicherlich aber auch für viele deutsche Leser, ist das Große Marienburger Werder unbekanntes Land, ein weißer Fleck auf der Landkarte. So ist es auch mir viele Jahre lang ergangen, obwohl es sich um die Heimat meiner Schwiegermutter handelt. Das Zitat oben habe ich von ihr, Leonore Paarmann, geb. Penner, aus Neukirch im Werder. Der Ausdruck ist unter Mennoniten bekannt und symbolisiert zweifelsohne die Bedeutung dieser Menschengruppe für die Entwicklung des Werders vom Sumpf bis zum fruchtbaren Ackerland. Mitte des 15. Jahrhunderts kamen die ersten Mennoniten als Religionsflüchtlinge aus den Niederlanden, damals eine spanische Exklave mit politischer und religiöser Nulltoleranz. Später wurde ihre Zuwanderung ermuntert, u.a. vom "Finanzmann" Hans Loitz in Danzig, der das wirtschaftliche Potential und die Tatkraft dieser Flüchtlinge verstanden hatte. Im Werder lebten sie dann bis 1945, von wo aus sie zusammen mit unendlich vielen anderen Europäern wieder auf die Flucht getrieben wurden. Als Archäologe hege ich ein gewisses Interesse, auch für die Vor- und Frühgeschichte dieses Gebietes: Das Werder gab es ja auch vor der Blütezeit des Deutschen Ordens im 12. bis 14. Jahrhundert; entsprechend werden Menschen sich auch früher hier aufgehalten haben. Der Anlass für die folgenden Zeilen ist ein Besuch in diesem Gebiet, den meine Frau, Friederike, und ich im Sommer 2005 unternahmen, eine Reise auf der damals und heute in merkwürdiger Weise zusammenschmolzen. 2. Das Große Werder - ein kurzer, historischer ÜberblickDas Werder ist ein sedimentiertes Flußdelta, geprägt von der quartärgeologischen Entwicklung der beiden Flüsse Weichsel/ Wisla und Nogat. Das Wort selbst - Werder - ist in vielen tief gelegenen Deltagebieten zu finden - wenn auch mit unterschiedlicher Orthographie: Wöhrt, Wärder, Wert(h). Im Internet sind eine ganze Reihe Werder zu finden, vor allem ein grün-weißes Fußballteam aus Bremen! Keine im jetzigen Polen - dort heißt es ja aber auch Zulawy, dafür mehrere z.B. im Mündungsgebiet der Weser. Die Ähnlichkeiten mit dem nordwestlichsten Teil des Kontinents sind auffällig in vieler Hinsicht, worauf ich zurückkommen werde. Mehrere Bedeutungen des Wortes sind zu verzeichnen, in unserem Fall dürfte "aus trockengelegtem Sumpf urbar gemachtes Land" am besten zutreffen. In dieses Werder zogen sie, die Mennoniten, um die Arbeit mit Deichen und Entwässerungsgräben fortzusetzen, die schon zur Zeit des Deutschen Ordens angefangen worden war, sich aber seit der Schlacht von Tannenberg im Jahre 1410 in fortgeschrittenem Verfall befand. Als Gegenleistung wurde ihnen die Freiheit versprochen, ihre Religion nach ihren Vorstellungen auszuüben. Die Geschichte der Mennoniten, die historischen Hintergründe in den Niederlanden sowie Süddeutschland, Berührungspunkte mit anderen Reformbewegungen usw., hat Jürgen Weigle in dem, in diesem Forum veröffentlichten, Aufsatz "Über Mennoniten" dargelegt und muss hier nicht wiederholt werden. Aber schon lange bevor das Gebiet zum Großen Werder wurde, hatten Menschen die Versorgungsmöglichkeiten dort für sich entdeckt... Die ersten Menschen im Werder waren Fischer, Jäger und Sammler. Sie kamen mehrere tausend Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung dorthin. Zweifelsohne hat das Gebiet kleineren Gruppen von Menschen ein verhältnismäßig gutes Leben geboten, wenn auch mit den üblichen Plagen der Zeit; Krankheiten und andere unbeeinflussbare Verhältnisse waren sicherlich nicht unbedeutend in dieser Sumpflandschaft; Stichwort: Malaria! Es waren aber nur wenige Menschen, die sich zur jener Zeit hier aufhielten. Spuren fester Siedlungen sind im archäologischen Fundmaterial so gut wie gar nicht nachzuweisen. Nicht einmal die landhungrigen Wikinger haben sich, so weit ich weiß, im Werder niedergelassen, was recht deutlich darauf hinweist, wie wenig das Gebiet von diesen, bei weitem expansivsten Bauern der Vorzeit (800-1000 n.Chr.) geschätzt wurde. Die Spuren organisierter menschlicher Aktivität fangen, wie es scheint, erst mit dem Deutschen Orden an. Aber diese Folgerung könnte natürlich auch ein Trugschluss auf Grund mangelnder Forschung sein... Das Werder, das die Ordensleute vorgefunden haben, war dementsprechend kein "Höhepunkt", weder wörtlich noch aus Sicht des Zivilisations- oder Missionsauftrages. Die ersten edlen Ritter müssen vor einem Sumpfgelände von schier unendlicher Ausdehnung gestanden haben, äußerst dünn besiedelt. Nicht viel war dort zu holen für diejenigen, die neue Länder zu christianisieren (lies: kolonisieren) suchten, nachdem das Heilige Land dem Orden aus den Händen geglitten war. Das Werder war sicherlich auch nicht das erste, worüber sich die Ordensleute gestürzt haben werden. Erst nachdem die Umgebungen in dem weitgedehnten Ordensland militärisch und politisch einigermaßen gesichert waren und die wirtschaftlichen Realitäten die enthusiastischen Rittern einzuholen begannn, richteten sie den Blick auf das Werder, das allerdings höchstens ein wirtschaftliches Potential besaß. Das Eindeichen des Landes zum Schutz gegen die Gewalt der Gewässer - wiederum eine Ähnlichkeit mit der Nordwestecke des Kontinents - muss eines der ersten Aufgaben gewesen sein, der sich das Ordensvolk gestellt sah. Die Landzunge, wo sich Weichsel und Nogat trennen, die Montauer Spitze, dürfte dabei hohe Priorität gehabt haben. Möglicherweise - soweit ich weiß, gibt es aber weder archäologische noch historische Beweise für diese Annahme - wurde auch das Abschneiden der Schwente (und Tiege) schon früh durchgeführt. Durch eine solche Maßnahme wäre schnell und einigermaßen effektiv ein relativ großes Stück Werderland gesichert worden. Auch bietet diese Annahme eine elegante Erklärung für die später geringe Bedeutung dieses Gewässers als Fluss und Transportweg. Ganz klar ist aber, dass eine umfassende Eindeichung während der Zeit des Ordens vollzogen wurde. Große Teile des Werders wurden trockengelegt und bevölkert - viele der Dörfer, die wir aus späteren Zeiten kennen, wurden zu dieser Zeit gegründet. Wie aber hat man dieses gewaltige Projekt durchgeführt? Wer hatte die Motivation, dieses Sumpfgebiet in ein fruchtbares Ackerland umzuwandeln? In der Einleitung des genannten Artikels weist Jürgen Weigle auf die Hypothese der arbeitswilligen Einwanderer aus dem Westen hin; schließlich mussten ja all diejenigen, die in den seit langem etablierten Gebieten im Westen keine Höfe zu erben hatten, irgendwie ihren Lebensunterhalt bestreiten. So der Grundgedanke dieser Hypothese, der allerdings von den Historikern, die mit der Ostsiedlung arbeiten, keinen Anklang mehr findet. Denn die Umwandlung einer Gesellschaft, die gekennzeichnet war durch eine geringe Bevölkerungszahl und einem nur niedrige Erträge erwirtschaftenden Ackerbau, in eine mit grösserer Bevölkerung, höheren landwirtschaftlichen Erträgen und einer zunehmenden Bedeutung der Handwerkerschaft, geschah nämlich so ziemlich gleichzeitig überall im Europa des 11. - 13. Jahrhunderts. Diese Entwicklung hielt an bis die größte Naturkatastrophe in der Geschichte Europas eintraf: die Pest. Wer Lebens- und Wirtschaftsraum suchte, musste demnach nicht allzu weit weg ziehen. Diejenigen, die trotzdem weiter zogen, waren erstaunlich wenige. Durch die wirtschaftliche Tragfähigkeit des Landes war aber ein sehr rascher Bevölkerungszuwachs möglich; es ist sogar von einer Verdoppelung der Bevölkerung in 25 Jahren die Rede. Die Frage bleibt natürlich offen, in wieweit diese verallgemeinernden Hypothesen der Historiker auch für die Sümpfe des Weichseldeltas zutreffend sind...? Eine gegensätzliche Hypothese geht davon aus, dass die "Sklavenarbeit" des Eindeichens in der Tat auch von Sklaven, hauptsächlich lettischen und litauischen Kriegsgefangenen, ausgeführt wurde. Letztlich war ja der Deutsche Orden ins Land gekommen, um, auch mit Zwangsmethoden, die heidnischen Länder im Osten zu bekehren. Wahrscheinlich aber gibt es keine einfache Erklärung; es spielen stattdessen verschiedene Ereignisse eine Rolle. Möglicherweise war es eine Vielfalt menschlicher Schicksale, die dieses gewaltige Projekt voranbrachten - wir werden es nie mit Sicherheit erfahren... Dagegen wissen wir, dass einige namentlich bekannte Personen schon früh mit der Urbarmachung beauftragt waren: Meinhart von Querfort (1288-1299) in Elbing und sein Nachfolger Konrad Sack (1302-1306) gehören zu den ersten bekannten Landmeistern, die im Werder systematisch eingedeicht haben. Es sollte vielleicht auch erwähnt werden, dass viele der späteren Techniken den Ordensleuten ja noch nicht zur Verfügung standen, z.B. die vom Wind angetriebene Archimedesschraube, die in den Niederlanden so unendlich viel bedeutet hat. Die ermöglicht nämlich das Entwässern von Arealen, die unterhalb der umgebenden Wasseroberfläche liegen. Für die Mennoniten wurde diese Mühle später zu einem wichtigen Instrument und erlaubte eine Urbarmachung, die zu Ordenzeiten nie erreicht wurde. Das Große Werder blühte unter dem Orden noch gut weitere 100 Jahre nach Querfort und Sack, obwohl die Wolken am Horizont immer bedrohlicher wurden: Der Deutsche Orden hat es nie geschafft, Litauen zu unterwerfen, und trotz intensiver Versuche des Hochmeisters Konrad von Jungingen (1393-1407) konnte der Frieden mit Polen nicht eingehalten werden. Unendliche Intrigen der Herzöge und Markgrafen der umgebenden Länder führten ständig zu militärischen Zwischenfällen. All das und innere Streitigkeiten führten dazu, dass der Ordensstaat immer schwächer wurde. Mit der Schlacht von Tannenberg im Jahre 1410 war die Macht des Ordens endgültig und für immer gebrochen, zumindest was das Werder betrifft. Wie alle Verfallsprozesse war auch der Untergang des Ordens ein langsamer Tod. Zu jener Zeit haben viele Menschen sicherlich nicht verstanden, dass sich neue Zeiten anbahnten. Durch die Aufteilung des Ordenslandes in mehrere Teile - Königlich Preußen unter polnischer Hoheit, das bischöfliche Ermland sowie das eigentliche, übrig gebliebene Ordensland mit Königsberg als Hauptstadt, wurde möglicherweise die Illusion aufrecht erhalten, dass alles wieder so werden würde wie es einmal war. Dieses Phänomen kommt doch irgendwie bekannt vor, oder...? Zu jener Zeit war vieles von dem, was früher aufgebaut worden war und einen gewissen Reichtum im fruchtbaren Werder geschaffen hatte, wieder zerstört. Die verhältnismäßig einfachen Techniken der Ordensleute hatten nicht ausgereicht, ein beständiges Bollwerk gegen die Kräfte des Wassers zu errichten und das Große Werder langfristig als landwirtschaftliche Region zu sichern. Die alten Deiche waren vernachlässigt worden, und die ursprüngliche Natur hatte das Land von neuem erobert; viele der während der Zeit des Ordens gegründeten Dörfer waren verlassen und menschenleer. So sah das Land aus, als die ersten Mennoniten in das Danziger Werder, also westlich der Weichsel, kamen, nachdem im Jahre 1542 ein Haftbefehl gegen Menno Simmons erteilt worden war. Die Fortsetzung der Geschichte hat Jürgen Weigle in seinem Artikel "Über Mennoniten" geschildert. 3. Ein Besuch im Land der Mennoniten - Das Große Marienburger Werder
Zu Leonores Zeit fuhr man nur selten nach Danzig. Obwohl es von Neukirch dorthin mit heutiger Kommunikation eine Kleinigkeit
ist, war eine Reise mit Pferd und Wagen schon eine größere Angelegenheit, zumal eine feste Verbindung über die Weichsel nur im
viel weiter südlich gelegenen Dirschau bestand: die legendäre Brücke (Abb. 1), über die endlose Trecks am Ende des zweiten
Weltkrieges zogen... Von Neukirch aus wurde die Weichsel in jener Zeit mittelst einer kleinen Fähre ein Stück nördlich von
Heute überquert man die Weichsel auf der neuen Brücke der Straße 7 zwischen Danzig und Elbing, es sei dann, man zieht
es vor - wie wir es getan haben - die Hauptstraße bei Quadenfort zu verlassen und auf der Straße 501 weiterzufahren. Auf
Die deutsche Anwesenheit im Werder ist nicht zu übersehen, auch wenn sie nur historisch ist. Sie zeigt sich durch architektonische Elemente, wie eben erwähnt, aber auch die Ortsnamen sind oft noch die deutschen, einfach ins polnische übertragen - Neukirch heißt heute Nova Cerkiew. Den einen oder anderen, nach dem Krieg zurückgebliebenen Deutschen gibt es auch noch, wie z.B. Herrn Neumann und sein Bruder, der erste deutsch, der andere polnisch sprechend. Auf dem Marktplatz in Groß Lichtenau halten die beiden Ausschau nach deutschen - oder schwedischen, das macht für sie keinen Unterschied - Touristen, denen sie die Geschichte ihres Lebens erzählen können, die Geschichte des Dorfes oder auch andere Geschichten, selbstverständlich in Erwartung eines Obolus... Es sind übrigens keine uninteressanten Geschichten, die Herr Neumann zu erzählen weiß, aber das muss ein anderer Aufsatz werden. 4. Der mennonitische Friedhof bei PordenauEin Ziel unserer Reise war es, mennonitische Friedhöfe zu suchen, kein leichtes Ziel, wie sich zeigen sollte. Überhaupt fanden sich kaum Gräber aus der Zeit vor 1960. Der oben genannte Herr Neumann erzählte uns, nach anfänglichem Erstaunen, dass die Friedhöfe nach dem Krieg häufig neu geordnet worden sind, und alte Gräber geräumt wurden, um neuen Platz zu schaffen.
Der mennonitische Friedhof - kurz erwähnt in Jürgen Weigles Artikel -, der zwischen Neukirch und Pordenau, direkt an der schmalspurigen Kleinbahn gelegen hat war, so wurde uns berichtet, völlig zerstört, ausradiert von dieser Welt. Für einen Archäologen ist schwer vorstellbar, dass ein Friedhof - wenn auch noch so verkommen und verwahrlost -, der noch vor 20 Jahren gut sichtbar gewesen war, im Jahre 2005 völlig von der Erdoberfläche verschwunden sein sollte. Die Vegetation müsste von der Umgebung - hauptsächlich Acker- und Weideland - abweichen und damit seine Lage "verraten". Und im zugewachsenen Gebüsch, das Jürgen Weigles Bruder beschrieben hatte, dürften noch physische Hinterlassenschaften in Form von Grabsteinen und anderem zu finden sein.
Wilfried Dyck Bald wurden weitere Steine sichtbar, Grab- und Kantsteine, ebenso mehrere fragmentarische und umgestürzte Fundamente und sonstige grabarchitektonische Elemente. Auf dem nächsten Stein, der - zumindest teilweise - interpretiert werden konnte (Abb. 11) stand:
Erst nach unserer Rückkehr nach Schweden und den ersten Vergleichen mit dem Familienarchiv wurde uns klar, dass dieser Jacob Dyck und seine Gattin, Catharina Wienss, geboren 1783 in Fürstenwerder und gestorben 1862 in Prangenau, deren sterbliche Überreste unter dem zerschlagenen Stein ruhten, den wir in dem zugewachsenen Gehölz gefunden hatten, die Ur-Ur-Urgroßeltern von Leonore waren!
Es gelang uns, einige weitere Inschriften zu deuten:
Ein weiters Beispiel: Hier ruht der
Dem Platz seine Würde zurück zu geben - ohne irgendwie versuchen zu wollen, ihn wiederherzustellen oder zu rekonstruieren, lediglich wieder "sichtbar" zu machen - ist verlockend. Der Platz ist sowohl schön wie auch tragisch; er ist jetzt schon ein Zeitdokument. Seine Pietät liegt darin, dass er historisch ist, und sein jetziger trauriger Zustand darin, dass er von den meisten nicht verstanden wird. Wenige Menschen, wenn überhaupt irgend jemand im näheren Umkreis, verstehen, was dieses kleine Wäldchen symbolisiert: Ein Stück Geschichte des Großen Werders, ohne den trübseligen, politischen Unterton, den die Relationen zwischen Polen und Deutschland, schon seit den Zeiten des Deutschen Ordens, meistens gehabt haben. Hier geht es um Menschen, die aus religiöser Überzeugung ihre holländische Heimat verlassen mussten, und schon im 16. Jahrhundert ins Werder kamen. Aus politischen Gründen, auf die sie keinen Einfluss hatten, wurden sie wieder Flüchtlinge, diesmal als Deutsche. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die heutigen Bewohner des Werders - auch sie meistens Flüchtlinge, diesmal aus den polnischen Gebieten im Osten, die von der Sowjetunion annektiert wurden - jetzt einigermaßen gut im Großen Marienburger Werder leben können. Eine solche Geschichte müsste doch eigentlich Brücken bauen... ? 5. Über den Autor
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